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Sind Arbeitszeugnisse noch sinnvoll?

Auf möglichst hervorragende Arbeitszeugnisse wird im Rekrutierungsprozess allgemein sehr grossen Wert gelegt. Es stellt sich je länger je mehr die Frage, warum dem so ist. Eine Frage der Gewohnheit von Verantwortlichen?



Häufig wird um einzelne Formulierungen in Arbeitszeugnissen im deutschsprachigen Raum erbittert gefeilscht und gerungen. Ist das die Mühe und den Ärger Wert? Was sagen Arbeitszeugnisse wirklich aus?


Meiner langjährigen Erfahrung zufolge sollte man der Aussage einzelner Arbeitszeugnisse nicht eine zu grosse Bedeutung zumessen. Ein Zeugnis ist schlussendlich immer subjektiv und beinhaltet häufig nicht nur eine isoliert betrachtete sowie neutrale Leistungsbeurteilung. Sympathien oder Antipathien fliessen genauso ein. Weiter unterscheiden sich Arbeitszeugnisse auch in der Qualität der Aussagen stark. Konzerne arbeiten bei der Zeugniserstellung mit klar skalierten Blocksätzen. Die Abläufe der Zeugniserstellung wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker automatisiert sowie professionalisiert. Kleinere und mittlere Unternehmen stellen natürlich auch Arbeitszeugnisse aus, dies aber in sehr unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft. Teils lese ich heute noch Codierungen, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet werden sollten. Oder Unternehmen erwähnen in der Fusszeile des Arbeitszeugnisses, dass bei der Anfertigung auf alle Codierungen verzichtet wurden – nur um dann genau solche Codierungen zu verwenden. Formulierung wie: «Wir bekennen uns zu uncodierten Arbeitszeugnissen» dienen wohl vielmehr zur Abwehr vor unangenehmen Diskussionen oder Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitenden. Ein Unding, meiner Meinung nach. Fisch oder Vogel, aber bitte nicht beides!


Welche Erwartungen haben Personalfachpersonen an Arbeitszeugnisse?

  • Von Arbeitszeugnissen erwarten sich HR Fachpersonen die Möglichkeit, aus früheren Leistungen auf zukünftige zu schliessen

  • Man versucht klare Aussagen über Sozialkompetenzen, Verhalten, Arbeitsqualität sowie Quantität zu erhalten

  • Weiter werden vermeintlich bekannte codierte Satzbausteine herausgepickt und viel Wert auf die sogenannten Schlusssätze gelegt. Letztlich um zu erfahren, ob der Kandidat, die Kandidatin selbst gekündigt hat oder dies vom Arbeitgeber vollzogen wurde.

Die Frage stellt sich natürlich, ob solche Aussagen in Arbeitszeugnissen wirklich eindeutig, sogar ausreichend verlässlich sind, um eine Leistungserwartung zu prognostizieren.


Die wohl schlechte Nachricht: Isoliert betrachtet, kaum.

Ich bekenne, dass auch ich vor einer Empfehlung oder einer Einstellungsentscheidung zurückschrecken würde, sollte dem Bewerber gemäss vorliegenden Zeugnissen mehrmals in Folge gekündigt worden sein. Hier geht es aber nicht um eine einzelne Leistungsbeurteilung, entnommen aus einem Zeugnis, sondern mehr um ein Muster in der biografischen Rolle des Kandidaten oder der Kandidatin.


Arbeitszeugnisse sind im deutschsprachigen Raum ein essenzielles Kriterium in Personalauswahlverfahren. In Frankreich sowie im angelsächsischen Sprachraum spielen sie hingegen eine untergeordnete Rolle, sind partiell verpönt oder sogar verboten. Man arbeitet z. B. in Frankreich ausschliesslich mit kurzen Arbeitsbestätigungen, die ein oder zwei Sätze umfassen und kurz die Beschäftigungsdauer und die Position bezeugen. Bei Rekrutierungsverfahren wird hier bedeutend mehr Wert auf direkte Referenzauskünfte gelegt. Erstaunlicherweise werden diese in der Schweiz eher seltener eingeholt. Man fragt sich natürlich, warum? Würde man im direkten Dialog nicht mehr erfahren? Scheut man den Kontakt oder befürchtet beschönigende Aussagen, verlässt sich darum lieber auf schriftliche Zeugnisse?


In der Schweiz hat jeder Arbeitnehmer nach einer gewissen Anstellungsfrist ein Anrecht auf ein Arbeitszeugnis. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass dieses wohlformuliert sein müssen, was einerseits sicherlich sinnvoll scheint, auf der anderen Seite aber Beihilfe für oben erwähnte Codierungen oder Pseudocodierungen liefert. Ungenügende Leistungsaspekte werden aufgrund dessen häufig im Arbeitszeugnis komplett weggelassen. Was wiederum der Konfliktvermeidung dient. Offenbar hoffen die verfassenden Unternehmen dabei, dass die Lücke in der Beurteilung nicht auffällt, mindestens dem Empfänger nicht. Es braucht schon sehr viel Übung in der Interpretation von Zeugnissen, dass solche Leistungsbeurteilungslücken auffallen, auch einem potenziellen neuen Arbeitgeber. Schlussendlich fehlt eine Normierung, jedes Unternehmen stellt nach eigenem Gusto Zeugnisse aus.


Zum Thema Arbeitszeugnisse gibt es wenige wissenschaftlich basierte Studien, was per se erstaunt, da das Thema doch recht zentral scheint.

Die Betriebspsychologin Prof. Dr. Cynthia Sende von der Universität Hof hat rund 800 Arbeitszeugnisse ausgewertet, um die Validität solcher Zeugnisse zu überprüfen. Die betroffenen Personen absolvierten einen Persönlichkeitstest und ehemalige Kollegen und Vorgesetzte bewerteten sie offen und unbeschönigt. Diese Ergebnisse wurden dann mit den ausgestellten Zeugnissen abgeglichen. Dabei mussten bestimmte Standardformulierungen zunächst in Schulnoten übersetzt werden. Die Formulierung „Das Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen war stets vorbildlich“ entspricht in etwa der Schulnote sechs, während „stets einwandfreies“ Verhalten einer fünf gleichkommt. Das Resultat war ernüchternd.


Arbeitszeugnisse enthalten viele Informationen, die mit der Leistung nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite ist der überwiegende Teil der Leistung gar nicht abgebildet.

Kaum aussagekräftiger waren die Arbeitszeugnisse hinsichtlich der Arbeitsleistung. Die Bewertung gemäss Arbeitszeugnis korrelierte immerhin zu bis zu 18 Prozent mit der Einschätzung durch ehemalige Kollegen und Führungskräfte. Beim Punkt „Arbeitet auch über die normale Arbeitszeit hinaus" – sprich in welchem Masse jemand über die geforderte Leistung hinaus bereit ist, sich zusätzlich zu engagieren – betrug die Korrelation noch rund 14 Prozent. Das Merkmal „Karriereerfolg“ hingegen, also etwa die Geschwindigkeit des Aufstiegs im Unternehmen, lässt sich praktisch nicht aus Zeugnissen herauslesen.


Ein erschreckendes Fazit: Arbeitszeugnisse lassen weitestgehend keine Vorhersage zur Leistung eines Bewerbers im ausgeschriebenen Job zu und sollten deshalb im Auswahlverfahren keine allzu grosse Rolle spielen.

Studien dazu, wie gut sich die Leistung von Bewerbern am neuen Arbeitsplatz mithilfe von Arbeitszeugnissen prognostizieren lässt, gibt es leider noch nicht. Die zu erwartende Aussagekraft ist jedoch gering.

Der Vergleich ergab: Für die sechs Persönlichkeitsmerkmale Stabilität, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit sowie Leistungsmotivation gibt es annähernd keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Arbeitszeugnissen und Persönlichkeitstests und Aussagen von den ehemaligen Chefs sowie Kollegen.


Die prognostische Validität von Arbeitszeugnissen dürfte im einstelligen Prozentbereich liegen.

Wie in der Studie aufgezeigt, ist bereits die Korrelation zwischen Zeugnis und tatsächlicher Leistung für den alten Arbeitsplatz gering. Bei einem Stellenwechsel kommen jedoch zusätzliche Unsicherheitsfaktoren dazu, so beispielsweise:

  • Wie gut erfüllt jemand mit dem neuen Job verbundene, ungewohnte Aufgaben?

  • Wie harmoniert jemand mit dem neuen Team, dem neuen Vorgesetzten, einer anderen Führungskultur?

Solche Fragen können Arbeitszeugnisse erst recht nicht beantworten. Einschätzungen darüber müssen auf andere Verfahren abgestützt werden, beispielsweise auf strukturierte Interviews, Assessments, Testverfahren oder Interviews.

Im Personalauswahlverfahren geht es um eine Eignungsprognose. Also auch um eine mögliche Minimierung des Risikos. Sobald eine Neuanstellung schiefläuft, entstehen dadurch enorme Kosten und allenfalls weitere Schäden (bei Kollegen und Kunden). Diese Eignungsprognose können Arbeitszeugnisse isoliert kaum liefern. Sie sollten meiner Meinung nach deshalb nicht überbewertet werden – sonst werden womöglich gute Bewerber ausgesondert, bevor ihre tatsächliche Eignung etwa in einem Interview oder Assessment-Center festgestellt werden kann.


Meine Empfehlung als Fazit:

Achten Sie in Lebensläufen auf die biografische Rolle eines Kandidaten, einer Kandidatin. Gibt es Muster, Wiederholungen etc., die Sie erkennen? Werden diese Verhaltensweisen oder Muster gesamthaft betrachtet in den Arbeitszeugnissen bestätigt? Führen Sie strukturierte Interviews durch, damit sich die einzelnen Kandidaten wirklich vergleichen lassen und last, but not least, welche Testverfahren, Assessments oder Probetage etc. führen Sie durch? Diese Schritte, in Kombination, garantierten eine ausgezeichnete Risikominimierung in der Rekrutierung, dies mit dem Resultat von glücklichen, motivierten neuen Mitarbeiterinnen sowie Mitarbeitern. Und wer hier an die Kosten oder Aufwand von z. B. Testverfahren denkt? Vielleicht sollten Sie sich überlegen, was eine Fehlbesetzung kosten würde, das minimiert häufig rasch Budgetbedenken.


Um zum Schluss noch ein wenig Werbung in eigener Sache: Wir bieten seit Jahren erfolgreich unser Online Assessment Personality Check als Unterstützung und Zeitmeinung in Rekrutierungsprozessen an. Weitere Informationen dazu findest du hier:










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